Der große Paul-Lechler-Saal im Hospitalhof war fast voll besetzt, als am Abend des 19. Januar 2023 die Prorektorin für Informationstechnologie (CIO) der Universität Stuttgart, Frau Dr. Rehm, das Publikum begrüßte. Die bewegende „Zukunftsrede“ des chinesischen Dissidenten Liao Yiwu vom Vorabend habe viele Denkanstöße gegeben – und unter anderem auch dazu aufgefordert, sich das chinesische System der digitalen Überwachung genauer anzusehen. Das hochkarätig besetzte Podium thematisierte indes nicht nur die Gegenwart in China, sondern auch die möglichen Zukunftsszenarien für Deutschland und Europa.
Zunächst rückte die Politologin und Sinologin Katika Kühnreich das falsche Bild vom duldsamen, unterwürfigen chinesischen Volk zurecht: In China gebe es sehr wohl Widerstand und Proteste, auch wenn diese im Ausland nicht immer sichtbar sind. Noch sei die digitale Überwachung nicht perfekt, auch wenn dieser Eindruck in deutschen Medien manchmal vermittelt werde. Natürlich sei die Situation in China zu beklagen, aber sie sehe auch, dass in Deutschland die Bequemlichkeit einer konsumistischen Haltung dazu führe, dass die Menschen die Gefahren digitaler Überwachung und Kontrolle unterschätzten. Nach den Enthüllungen von Edward Snowden sei das Thema schnell wieder verschwunden. Wie ein Frosch im lauwarmen Wasser genieße man die Vorteile des digitalen Kapitalismus und blende aus, dass auch die Digitalisierung zur Zerstörung des Planeten beitrage und alle Technologien zum „dual use“, also auch zum Missbrauch geeignet seien.
Prof. Dr. Michael Resch, der Leiter des Hochleistungsrechenzentrums, stimmte hier grundsätzlich zu, vertrat jedoch die Ansicht, dass die Werbepropaganda großer Konzerne oft an der Wirklichkeit vorbeigehe: Weder sei er von der Trefferquote algorithmisch erstellter Konsumvorschläge eines Versandhändlers beeindruckt, noch sehe er in naher Zukunft eine realistische Chance, die Idee des autonomen Fahrens tatsächlich umzusetzen. Gefährlicher als die Technologien seien vielmehr jene Ideologien und Menschenbilder, die ihn ihrer maßlosen Verwendung zum Ausdruck kämen. Manche Dinge – zum Beispiel Gerichtsurteile oder komplexe medizinische Diagnosen – bedürften der menschlichen Urteilskraft und ließen sich nicht einfach durch Kategorisierung, Formalisierung und Algorithmisierung lösen. Geboten sei eine gesellschaftliche Auseinandersetzung darüber, wo selbstlernende Maschinen nützlich sein können, und wo sie nichts zu suchen haben – beispielsweise im Justizwesen. „Hören wir doch auf, das Brotmesser an der Schneide zu halten und auf das Brot einzuschlagen!“, so Resch.
Optimistisch zeigte sich in dieser Hinsicht der ehemalige Landesbeauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit Baden-Württemberg , Dr. Stefan Brink. Die europäische Datenschutzgrundverordnung habe sich nicht etwa als „Standortnachteil“ erwiesen, sondern geradezu als Exportschlager. Das Bild von der Digitalisierung als einem quasi-natürlichen Prozess, einer Art Naturereignis, das nicht aufzuhalten sei, verstelle den Blick auf die Gestaltungsmöglichkeiten. Gerade der Blick nach China erinnere daran, wie wichtig eine öffentliche und politische Debatte über die Frage sei, wie man die Verwendung neuer Technologien gestalten wolle. Auch mit der DSGV sei diese Debatte keineswegs abgeschlossen.
Das Publikum beteiligte sich rege, so dass Eva Wolfangel, die Moderatorin des Abends, Brücken und Verknüpfungen bauen konnte, die die Impulse aus dem Publikum mit den Positionen auf dem Podium verbanden. An diesem Abend war sehr deutlich geworden, wie wichtig die öffentliche Reflexion technologischer Innovationen gesamtgesellschaftlich ist – und wie sie aussehen kann. Es ist Zeit für den Frosch, über den Wärmeregler zu sprechen.